Russland wachrütteln by Schanna Nemzowa

Autor:Schanna Nemzowa
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2014-12-31T16:00:00+00:00

Der Mensch hinter dem Politiker

Mein Vater war ein Mensch, der strikt zu seinen Überzeugungen stand und sich nicht wie manche andere auf faule Kompromisse einließ. Das war auch der Grund, warum es Schritt für Schritt zum Bruch mit Putin kam. Jede Art der Zusammenarbeit mit ihm war für meinen Vater tabu. Im heutigen Russland ist das eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen.

Neben der Politik kannte sich mein Vater auch gut in der Makroökonomie aus. Besonders stolz war er auf eine Formel, die er selbst entwickelt hatte und mit deren Hilfe man den Rubelkurs in Abhängigkeit vom Ölpreis vorhersagen kann. Einige Investmentbanker in Russland nennen sie die »Nemzow-Formel«. Auch Elisabeth Osetinskaja, Chefredakteurin meines früheren Arbeitgebers RKB, interessierte sich dafür. Über Facebook nahm sie deshalb Kontakt mit meinem Vater auf, worüber er sich sehr freute.

Der russische Staatshaushalt ist, wie bereits mehrfach erwähnt, abhängig vom Ölpreis. Mein Vater ging davon aus, dass der Grund dafür, dass der russische Staat den Rubelkurs 2014 freigab und nicht mehr regulierte, unter anderem darin bestand, dass die Regierung angesichts der Ölpreissenkungen kein Haushaltsdefizit zulassen wollte. Und so errechnete er diese magische Zahl – den Rubelpreis pro Barrel, der nötig ist, damit die Staatskasse keine roten Zahlen schreibt. Anfang 2015 funktionierte diese Gleichung dann aber nicht mehr, aus einer Reihe von Ursachen, unter anderem einem Kurswechsel der russischen Zentralbank.

Neben wirtschaftlichen Fragen befasste sich mein Vater auch viel mit sozialen Fragen. Viele russische Politiker in den 1990er Jahren saßen in Regionalbehörden oder Regierungsämtern und haben nie direkt mit den Menschen gearbeitet. Bei meinem Vater war das anders: Er ging selbst einkaufen, suchte das direkte Gespräch auf der Straße, war nie abgehoben. Weil er diesen Kontakt zu den Menschen hatte, der so untypisch war für sowjetische Apparatschiks, waren politische Entscheidungen für ihn nicht nur etwas Abstraktes. Er verstand, wie stark sich seine Arbeit auf das Leben seiner Mitmenschen auswirkt.

Nachdem er im Oktober 2013 als Abgeordneter ins Regionalparlament von Jaroslawl gewählt wurde, hat er einen großen Anti-Krisen-Plan für die Region ausgearbeitet. Schon zu diesem Zeitpunkt war absehbar, dass die Krise schmerzhaft sein und die Regionen empfindlich treffen würde. Zentraler Bestandteil seines Anti-Krisen-Programms war die Korruptionsbekämpfung. Als er diesen Plan vorstellte, bin ich auch zu ihm nach Jaroslawl gefahren. Das war unser letztes Treffen, eine Woche vor seinem Tod.

In seiner Zeit als Vizepräsident der Russischen Föderation Ende der 1990er Jahre setzte mein Vater durch, dass der Energiekonzern Gazprom seine Steuern endlich mit Geld bezahlte – und nicht mehr durch irgendwelche Tauschgeschäfte wie etwa die Lieferung von Gas. Eigentlich sollte das in einem zivilisierten Staat selbstverständlich sein, aber Gazprom war ein Staat im Staat, ein Konzern mit unglaublicher Machtfülle, und konnte deshalb lange mit diesen merkwürdigen Deals davonkommen. Diese Steuereinnahmen fehlten dann natürlich dem Staat. Das hat letztlich mit dazu beigetragen, dass Moskau etwa mit seinen Rentenzahlungen in großen Rückstand geraten ist und Millionen Rentner ohne Geld dasaßen. Heute sind solche Sachen leider ziemlich in Vergessenheit geraten.

Seine jüdische Abstammung spielte für meinen Vater nie eine Rolle. Er hielt sich nicht an die jüdischen Traditionen,

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